das KULTURgespräch   

vdm.digital Michael Hiller

Du hast zuletzt an spannenden Projekten wie The Lost Crew und ParaSitten gearbeitet. Was reizt dich an diesen Themen, und wie spiegeln sie deine künstlerische Handschrift wider?

Annika Hofgesang

ParaSitten beschäftigt sich mit den Sitten und Normen, die unser Verhalten prägen, wie beispielsweise das Schulsystem. Im Stück wird dies durch Tische und rote Bänder symbolisiert, die sich nach und nach um die Köpfe der Darsteller legen. Ein nachdenklicher Monolog einer „Lehrerin“, die Goethe aus Die Wahlverwandtschaften zitiert, verstärkt dieses Thema. Das Stück beleuchtet die egoistischen Interessen sozialer und politischer Gruppen, die die soziale Realität formen und dabei das Klima sowie zwischenmenschliche Beziehungen zerstören oder manipulieren – indem wir, zum Beispiel, viele Verhaltensweisen schnell labeln. Es stellt infrage, wie moderne Denkmuster und Strukturen die Menschheit beeinflussen, und thematisiert die Zerstörung der Umwelt sowie die Folgen menschlicher Eingriffe. Am Ende siegt die Natur, indem sie sich gegen die schädlichen Auswüchse der Menschheit zur Wehr setzt.

 

The Lost Crew entstand nach meiner ehrenamtlichen Tätigkeit auf dem Schiff als Matrosin bei Sea Shepherd Global. Es erzählt von einer Crew, die nach einem Sturm in einem mysteriösen Ungleichgewicht erwacht. Ein toter Hai hängt am Galgen und das Verschwinden einer Spezies bringen das Gleichgewicht der Natur ins Wanken. Der Captain kämpft verzweifelt nach Antworten, während Misstrauen, Verrat und Konflikte unter den Mitgliedern eskalieren. Ein zweiter Captain taucht auf, dessen wahre Absichten im Dunkeln bleiben. Im Hintergrund beobachtet ein Maler die Geschehnisse, dessen Pinselstriche möglicherweise das Schicksal der Crew beeinflussen.

Meine künstlerische Handschrift ist geprägt von der Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen des Menschseins. Ich suche nach Verbindungen zwischen Natur und Mensch, Freiheit und Angst, Egoismus und Gemeinschaft. Besonders interessiert mich das Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung, Zerstörung und Erneuerung – wie fragile Gleichgewichte kippen und sich neu formen.

Ich liebe es, starke Bilder und Atmosphären zu schaffen, die kleine Geschichten erzählen, ohne sie vollständig zu erklären. Für mich geht es darum, Räume zu öffnen, in denen sich das Publikum selbst wiederfinden oder neue Perspektiven entdecken kann. Die Körperlichkeit und Energie meiner Choreografien sind mir genauso wichtig wie die Fragilität und Tiefe der Themen, die ich verarbeite.

In meinen Stücken wird die Welt spielerisch und verträumt und gleichzeitig auffordernd und dynamisch scharfsinnig inszeniert, sodass eine besondere Atmosphäre entsteht – als Einladung, sich in eine andere Realität zu verlieren. Orte, die Fragen stellen, berühren und inspirieren. Für mich ist Tanz nicht nur Bewegung, sondern ein Weg, innere und äußere Konflikte sichtbar zu machen und gleichzeitig eine Sehnsucht nach Veränderung zu wecken.

ParaSitten

vdm.digital Michael Hiller

Gibt es ein kommendes Projekt, an dem du gerade arbeitest, das du schon mit uns teilen möchtest? Kreativer Prozess und Inspiration?

Annika Hofgesang

Im Jahr 2025 möchte ich mich persönlich weiterentwickeln, insbesondere im Bereich Schauspiel und Tanztheater, in denen ich selbst mitspiele. Ich bin auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, mich in verschiedenen Rollen und auch im Tanz auf der Bühne oder im Film auszuprobieren und weiterzuentwickeln – gleichzeitig suche ich Spielorte um meine abendfüllenden Tanztheaterstücke erneut aufzuführen.

Darüber hinaus habe ich mit der Kurzfilmidee „Mauerlos“ auf YouTube begonnen und bin noch auf der Suche nach Sponsoren oder Fördermitteln, um das Projekt weiter voranzutreiben. Viele meiner Ideen schweben derzeit noch in der Luft und suchen nach Kooperationspartnern und Unterstützung.

vdm.digital Michael Hiller

Wie beeinflussen dich andere Künste – Design, Architektur oder auch Literatur – in deiner Arbeit?

Annika Hofgesang

Gutes Design, insbesondere gut inszenierte Kleidung auf der Bühne, ist von großer Bedeutung für die Aussagekraft und das Gesamtbild einer Szenerie. Es ist nicht immer einfach, die passende Kleidung zu finden, die sowohl die Rolle unterstützt als auch die visuelle Wirkung verstärkt. Durch die Kleidung kann eine Rolle gezielt definiert und ein bestimmter Status oder eine visuelle Macht erzeugt werden. Leider musste ich aufgrund begrenzter Budgets einige meiner Vorstellungen etwas zurückschrauben. Dennoch bleibt Design für mich ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit, auch wenn es in der Prioritätenliste an letzter Stelle steht.

In der Literatur faszinieren mich vor allem Biografien. Besonders die düsteren Genies, die das Leben in seiner rohesten Form zeigen – voller Scheitern, Schmerz und radikaler Ehrlichkeit. Sie scheuen sich nicht, die Abgründe des Lebens zu konfrontieren, und machen diese zu einer Quelle ihrer Kraft und Kreativität. Ihre Fähigkeit, die Dunkelheit zu ertragen und daraus etwas Echtes zu schaffen, berührt mich zutiefst. In ihrem Scheitern finde ich eine Tiefe und Authentizität, die mich dazu inspiriert, meine eigenen Extreme zu erforschen. Sie zeigen, dass wahre Schönheit oft dort zu finden ist, wo nichts beschönigt wird, und dass Veränderung nur durch Unruhe entstehen kann.

Außerdem lese ich gerne Sachbücher zu Themen, die mich aktuell interessieren oder die für meine Stücke von Bedeutung sind. Zum Beispiel recherchiere ich über Agavenpflanzen, die Vergiftung unseres Körpers oder die Frage, was freie Radikale sind. Solche Informationen nutze ich als Hintergrundwissen für mein Stück Selend – frei und radikal.

vdm.digital Michael Hiller

Stell dir vor, Tanz würde nicht auf der Bühne stattfinden, sondern mitten im Alltag: Wo würdest du deine Kunst am liebsten platzieren?

Annika Hofgesang

„In meiner Vorstellung würde ich Tanz an Orte bringen, die den Menschen das Gefühl geben, etwas völlig Neues zu erleben – Orte, an denen Kunst vielleicht noch nie zuvor aufgetaucht ist. Es wäre spannend, Kunst genau dorthin zu platzieren, wo sie die Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort erreicht und ihre Aufmerksamkeit fesselt. Besonders faszinierend finde ich den Gedanken, Tanz an Plätze zu bringen, an denen sehr wohlhabende Menschen verkehren – so positioniert, dass niemand einfach vorbeigehen kann, ohne zumindest einen Moment innezuhalten und hinzusehen.

Ich könnte mir aber auch Museen oder andere Institutionen gut vorstellen.

Mein Traum? Natürlich auf einem großen Schiff – aber das zählt ja nicht wirklich zum Alltag.“

vdm.digital Michael Hiller

Welche Rolle spielt der Körper als Medium, um gesellschaftliche oder persönliche Themen sichtbar zu machen?

Annika Hofgesang

Der Körper lügt schlecht, und genau das ist das Schöne daran. Während in den Medien viel gesprochen und oft manipuliert wird, sind Worte variabel und können verwirren, da sie nicht immer beständig sind. Der Körper hingegen spricht eine klare, unmissverständliche Sprache. Er drückt sich ohne Worte aus, vermittelt Emotionen und eröffnet Perspektiven auf nonverbale Weise – eine universelle Sprache.

Durch verschiedene Bewegungsqualitäten – schnell, langsam, weich, hart und viele andere – können wir Geschichten erzählen und Stimmungen erzeugen. Ich empfinde, dass der Körper und die Bewegung den Zuschauer emotional und geistig oft viel tiefer ansprechen können als jemand, der zu Hause vor der Kamera sitzt und nur redet. Bewegung schafft eine tiefere Verbindung, die über das rein Intellektuelle hinausgeht.

Dennoch ist das Ausdrücken der inneren Gefühlswelten nach außen nicht zwangsläufig für jeden zugänglich – weder für den Zuschauer noch für den Performer.

vdm.digital Michael Hiller

Was wünschst du dir, dass das Publikum nach einer Aufführung von dir fühlt – oder vielleicht sogar denkt?

Annika Hofgesang

Ich wünsche mir in erster Linie, dass das Publikum die Aufführung offen und aufgeschlossen betrachtet und am Ende jeder etwas Persönliches mit nach Hause nimmt. Ob es ein Gefühl, eine Reflexion, eine Recherche zu einem bestimmten Thema des Inhalts oder die Motivation ist, häufiger ins Theater zu gehen oder vielleicht sogar selbst mit dem Tanzen zu beginnen – das bleibt jedem selbst überlassen. Dennoch würde ich mir wünschen, dass es irgendeine Form von Reaktion gibt.

Bei einer meiner letzten Performances als Solotänzerin zum Thema „Kafka – Synthese vom Mensch zur Maschine“ habe ich spannendes Feedback erhalten. Obwohl ich als Requisite nur eine Glasflasche verwendet habe, berichteten einige Zuschauer von einer beeindruckenden Transformation meines Wesens und Ausdrucks. Es entstanden die unterschiedlichsten Interpretationen und Geschichten, die sie in der kurzen Zeit der Performance gesehen haben. Zum Beispiel wurde die Flasche als Metapher für die Abhängigkeit von moderner Medialisierung interpretiert. Andere sahen die Flasche als etwas, das mich bewegt – als Schalter, Kontrollmechanismus oder Einblick in die Leere ihres Inhalts.

Diese Vielschichtigkeit und die Tatsache, dass meine Bewegungen nicht nur Bewegungen bleiben, sondern für einige Menschen zu einer kompletten Geschichte werden, macht mich unendlich glücklich.

Besonders berührt es mich, wenn Menschen weite Wege auf sich nehmen, um mein Tanztheaterstück zu sehen, oder wenn sie mich in anderen Performances als Tänzerin erleben möchten. Es ist unglaublich erfüllend zu wissen, dass es Zuschauer gibt, die meine Kunst über Jahre hinweg verfolgen und schätzen und mir persönlich Feedback schreiben.

vdm.digital Michael Hiller

Gibt es einen Moment mit einem Zuschauer oder einer Zuschauerin, der dich nachhaltig beeindruckt oder berührt hat?

Annika Hofgesang

Es gab tatsächlich viele und sehr unterschiedliche Reaktionen auf meine Tanztheaterstücke – die meisten sprachen für sich, ohne viele Worte oder Erklärungen. Ich konnte es einfach in den Blicken und der emotionalen Resonanz des Publikums sehen: eine Art Sprachlosigkeit oder Innehalten, das Bedürfnis, das Erlebte innerlich noch einmal abzuspielen, um es vollständig zu erfassen.

Einer schrieb nach dem Stück ein Gedicht, welches er mir schickte. Manche sahen in Inszenierungen wie ein toter Hai am Galgen für sich eine Art Unsterblichkeit, da der Hai keinen Hals besitzt. Es gab sehr unterschiedliche Philosophien, welche mich teilweise sehr beeindruckten.

Auch in Erinnerung geblieben ist mir eine Solo-Performance während der Hochphase von Covid-19, die ich für ein 1-zu-1-Publikum aufgeführt habe. Jede Vorstellung dauerte 10 Minuten, insgesamt sechs Mal pro Stunde, über zwei Stunden hinweg. In dieser Performance habe ich mit verschiedenen Objekten wie Holz, Metall, Wasser und Hanf interagiert. Durch Bewegung und Berührung der Objekte entstanden Klänge, die eine meditative Stimmung erzeugten.

Da meine Stücke oft sehr dynamisch sind, wollte ich dem Zuschauer in dieser besonderen Zeit ein Gefühl von Ruhe und Entspannung durch den Tanz vermitteln. Nach der Performance konnten die Besucher anonym einen von mir erstellten Fragebogen ausfüllen, um zu beschreiben, wie sie diese Art von Performance empfunden haben. Die zahlreichen positiven Reaktionen haben mich sehr erfreut. Besonders bewegend waren die Worte einer Frau, die mir erzählte, dass sie während der Aufführung begonnen hatte, aus tiefer Empfindung heraus zu weinen.

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